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Höhere Strafe für schweigenden Angeklagten?

“ … wird der Angeklagte darauf hingewiesen, dass es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen.“ § 243 Abs. 5  S. StPO. Zugegeben: Besonders originell mutet es nicht an, einen der Artikel für mein Blog mit einem Zitat aus der Strafprozessordnung zu beginnen. Aber bisweilen ist es angezeigt, das Gesetz in Erinnerung zu rufen. Und zwar gerade jene Normen, die zumindest jeder Profi kennen sollte und vermutlich auch meint zu kennen. So wohl auch der Staatsanwalt in einer Verhandlung vor dem Amtgericht Königs Wusterhausen, an der ich als Verteidiger des Angeklagten teilnahm, und in der heute, am inzwischen dritten Verhandlungstag, zu plädieren war.

Zuvor sollten noch zwei Zeugen vernommen werden, von denen man sich von vornherein nicht sehr viel mehr Neues erwartet hatte. Außerdem noch das ein oder andere Schriftstück durch Verlesen in die Beweisaufnahme eingeführt werden, und dann sollte es das gewesen sein. Schluss der Beweisaufnahme und dann die Plädoyers. Nichts Ausergewöhnliches. Aber dann: Der Staatsanwalt beginnt seinen Schlussvortrag mit einem Hinweis darauf, dass sich der Angeklagte nicht geäußert habe. Hmm. Die Tat, derer er angeklagt ist, sei bei ihm „wohl noch gar nicht richtig angekommen„, was auch immer damit zum Ausdruck gebracht werden sollte. Jedenfalls werde das im Rahmen der Strafzumessung, auf die der Staatsanwalt später in seinem Plädoyer zu sprechen komme wolle, zu berücksichtigen sein. Wie bitte?

Eigentlich gab es in diesem Verfahren nicht all‘ zu viel Anlass für Verärgerung, und ich hatte  gedacht, dass das heute ein recht entspannter Tag werden könnte. Aber nun, da ich den Worten des Vertreters der Anklage lausche, spüre ich dann doch wieder diesen Druck in meinem Hals, der sich aus Gefühlen wie Wut und Fassungslosgkeit speist, und den Wunsch verspüren lässt, mich jetzt sofort von meinem Stuhl zu erheben und das Wort vorzeitig zu ergreifen. Kann es denn wirklich möglich sein, dass ein Volljurist …?

Wenn meine Mandanten besorgt die Frage an mich richten, ob es ihnen denn nicht zum Nachteil gereichen kann, wenn sie meinem Rat folgen, und sich nicht zur Sache einlassen – sich also durch Schweigen verteidigen -, dann dürfen sie sich auf meine für die Belange meiner Mandanten schier unerschöpfliche Geduld verlassen, mit der ich erforderlichenfalls auch wiederholt die Rechtslage erkläre. Meine Mandanten dürfen das. Sie sind Laien. Und sie sind meine Mandanten. Und ich ihr Verteidiger.

Aber der Staatsanwalt, wenn alles mit rechten Dingen zugegangen ist, ein des Lesens kundiger Volljurist, darf der das? Jedenfalls darf er sich nicht beschweren, wenn mein Plädoyer als Reaktion auf solchen Unsinn etwas gröber ausfällt. Das Recht zu schweigen, ist ein Recht des Angeklagten. Es steht ihm frei, so schon der Gesetzeswortlaut, davon Gebrauch zu machen. Stünde es ihm tatsächlich frei, wenn er nur wegen des Gebrauchmachens vom Schweigerecht mit höherer Strafe zu rechnen hätte. Natürlich nicht. Das habe ich dann in meinem Schlussvortrag noch mal in aller Ruhe und gaaanz ausführlich erklärt. Hat dann zwar etwas länger gedauert, so dass das Gericht heute nicht mehr zur Urteilsberatung kam. Aber was soll man machen.

Weinen oder Lachen?

Fassungslosigkeit oder Erleichterung? Empörung oder Genugtuung? Fassungslosigkeit und Empörung darüber, dass ein Berliner Amtsrichter elementare Grundregeln des Prozessrechts missachtet, oder Erleichterung und Genugtung darüber, dass das Kammergericht das auf dieser Missachtung des Rechts beruhende Urteil aufgehoben hat?

Ungläubiges Staunen darüber, dass ein Richter die Anwendung der auf Verfassungsrecht beruhenden Verteidigungsrechte von Betroffenen und Angeklagten als lästige Ungehörigkeiten empfindet, oder Belustigung darüber, mit welcher Ungeschicklichkeit diese rechtsfeindliche Haltung in der schriftlichen Urteilsbegründung offenbart und damit belegt wird? Welche Empfindung beherrscht die Reaktion eines Strafverteidigers, wenn ein Urteil, mit dem die Verdoppelung der Regelbuße gegen seinen Mandanten unter anderem damit begründet wurde, der Betroffene habe mit seinem Schweigen in der Hauptverhandlung den Versuch unternommen, die Aufklärung des Falles zu verhindern, in der Rechtsbeschwerde aufgehoben wird? Verärgerung darüber, dass Richter mit dieser Einstellung zu den Rechten von Betroffenen und Beschuldigten Recht sprechen, oder Erleichterung darüber, dass die Überprüfung durch das übergeordnete Kammergericht zur Wahrung des Rechts führte?

Zumindest ist die Freude nicht ungetrübt. Das Kammergericht vermag nur jene Urteile zu prüfen, die ihm zur Prüfung vorgelegt werden. In Bußgeldsachen erfolgt diese Vorlage zur Prüfung mit der Rechtsbeschwerde und bisweilen mit dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Ein ausgesprochen kompliziertes Rechtsmittel, das von Gesetzes wegen ausschließlich durch einen Anwalt begründet werden darf. Aber wie viele Bußgeldverfahren werden von den Betroffenen ohne Verteidiger geführt? Und wie viele Urteile werden gesprochen, die aufgehoben gehören?